Lebensfluss (Vita)

1955, vor Winterbeginn, spülten heftige Beben mich aus den mütterlichen Urgewässern ans Tageslicht. Das war im Berliner Westen, Charlottenburg, unserer Heimat an Havel und Spree. Als Die Mauer gebaut wurde in meiner Stadt, wechselte die Familie ihre Umgebung: Nun verdeckten hohe Berge den Horizont, auf Pferderücken durchquerte ich die Weiße Traun. Später schwamm ich in der Würm und im Starnberger See. Ein Exil wie im Märchen.
Dort begann mein Schreibfluss zu strömen, als die Erde noch rund war. Erst vom Leben berührt und dann vom Tod. Von dort aus bereiste ich die Hauptstädte an Seine und Themse: Die Kriegsgewinner handelten wieder mit Deutschland! Auch an die Weichsel kam ich und die Hohe Tatra bestieg ich. Den Atlantik hatte ich gerade erstmals überflogen, als eine Katastrophe die Olympiade in Bayerns Hauptstadt überschattete. Erst im Sommer danach kehrte ich dorthin zurück, langsam, per Schiff, ziemlich einsam, aber mit der Zukunft in der Tasche.
Ich studierte Oecotrophologie, Management und Sprachen an der Lahn und wollte einen Friedensdienst absolvieren, in die Entwicklungshilfe gehen. So kam ich für lange Jahre an den Pazifik, zu Seelöwen und Pelikanen, tauchte ein in die Wellen vor Pachacamac, in den Rhythmus von Huaynos, Marineras und Salsa und in den Sand der poblaciones, der barriadas, von Villa María del Triunfo und Villa El Salvador. In das wirkliche Leben ihrer Bewohner. Und ihre Schrecken. Und ihre Einsamkeit. Wurde ein Teil von ihnen.
So entwickelte ich mich selber. Und schärfte meine Sinne. Immer voller Sehnsucht nach dem heilsamen Rhythmus von Ebbe und Flut und den nordischen Inseln.

Meine Kinder sind Mannheimer geworden. Mit ihnen erlebe ich den Neckar seit 21 Jahren, und den Rhein. Den überquere ich inzwischen alltäglich: Ich fahre nach Neustadt in die Pfalz, wo ich unterrichte, gleich neben dem schmiedeeisernen Zaun, dem jüdischen Friedhof.

Mannheim, im Juni 2009